In den letzten Jahren hat das
Konzept der Mehrsprachigkeit im Ansatz des Europarats zum Sprachenlernen an
Bedeutung gewonnen. 'Mehrsprachigkeit' unterscheidet sich von
'Vielsprachigkeit', also der Kenntnis einer Anzahl von Sprachen, oder der
Koexistenz verschiedener Sprachen in einer bestimmten Gesellschaft.
Vielsprachigkeit kann man erreichen, indem man einfach das Sprachenangebot in
einer Schule oder in einem Bildungssystem vielfältig gestaltet, oder indem man
Schüler dazu anhält, mehr als eine Sprache zu lernen, oder indem man die
dominante Stellung des Englischen in internationaler Kommunikation beschränkt.
Mehrsprachigkeit jedoch betont die Tatsache, dass sich die Spracherfahrung
eines Menschen in seinen kulturellen Kontexten erweitert, von der Sprache im
Elternhaus über die Sprache der ganzen Gesellschaft bis zu den Sprachen anderer
Völker (die er entweder in der Schule oder auf der Universität lernt oder durch
direkte Erfahrung erwirbt). Diese Sprachen und Kulturen werden aber nicht in
strikt voneinander getrennten mentalen Bereichen gespeichert, sondern bilden
vielmehr gemeinsam eine kommunikative Kompetenz, zu der alle Sprachkenntnisse
und Spracherfahrungen beitragen und in der die Sprachen miteinander in
Beziehung stehen und interagieren. In verschiedenen Situationen können Menschen
flexibel auf verschiedene Teile dieser Kompetenz zurückgreifen, um eine
effektive Kommunikation mit einem bestimmten Gesprächspartner zu erreichen. Zum
Beispiel können Gesprächspartner von einer Sprache oder einem Dialekt zu einer
oder einem anderen wechseln und dadurch alle Möglichkeiten der jeweiligen
Sprache oder Varietät ausschöpfen, indem sie sich z. B. in einer Sprache ausdrücken
und den Partner in der anderen verstehen. Man kann auch auf die Kenntnis
mehrerer Sprachen zurückgreifen, um den Sinn eines geschriebenen oder
gesprochenen Textes zu verstehen, der in einer eigentlich 'unbekannten' Sprache
verfasst wurde; dabei erkennt man zum Beispiel Wörter aus einem Vorrat an
Internationalismen, die hier nur in neuer Gestalt auftreten. Jemand mit - wenn
vielleicht auch nur geringen - Sprachkenntnissen kann diese benutzen, um
anderen, die über gar keine verfügen, bei der Kommunikation zu helfen, indem er
zwischen den Gesprächspartnern ohne gemeinsame Sprache sprachmittelnd aktiv
wird. Auch wenn kein Sprachmittler zur Verfügung steht, können solche Menschen
trotzdem bis zu einem gewissen Grad kommunizieren, indem sie ihren ganzen Vorrat
an linguistischem Wissen ins Spiel bringen und mit alternativen Formen des
Ausdrucks in verschiedenen Sprachen oder Dialekten experimentieren und dabei
paralinguistische Mittel nutzen (Mimik, Gestik, Gesichtsausdruck usw.) und ihre
Sprache radikal vereinfachen.
Aus dieser Perspektive ändert sich
das Ziel des Sprachunterrichts ganz grundsätzlich. Man kann es nicht mehr in
der Beherrschung einer, zweier oder vielleicht dreier Sprachen sehen, wobei
jede isoliert gelernt und dabei der 'ideale Muttersprachler' als höchstes
Vorbild betrachtet wird. Vielmehr liegt das Ziel darin, ein sprachliches
Repertoire zu entwickeln, in dem alle sprachlichen Fähigkeiten ihren Platz
haben. Dies impliziert natürlich, dass das Sprachenangebot der
Bildungseinrichtungen diversifiziert wird und dass die Lernenden die
Möglichkeit erhalten, eine mehrsprachige Kompetenz zu entwickeln. Wenn man
darüber hinaus anerkennt, dass Sprachenlernen eine lebenslange Aufgabe ist,
wird es besonders wichtig, die Motivation und die Fähigkeiten, aber auch das
Selbstvertrauen junger Menschen zu fördern, sich auch außerhalb der Schule
neuen Spracherfahrungen zu stellen. Die Verantwortlichkeit der Bildungsbehörden
und der Prüfungsanbieter, die Qualifikationen feststellen, sowie der Lehrenden
kann sich nicht darin erschöpfen, für das Erreichen eines bestimmten
Kompetenzniveaus in einer bestimmten Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt zu
sorgen - so wichtig das zweifellos ist.
Welche Implikationen dieser
Paradigmenwechsel letztlich hat, muss noch genauer herausgearbeitet und in
praktisches Handeln übertragen werden. Die jüngsten Entwicklungen im
Sprachenprogramm des Europarats wurden so angelegt, dass sie allen Angehörigen
der Sprachlehrberufe Handwerkszeug zur Förderung der Mehrsprachigkeit zur
Verfügung stellen. Besonders das Europäische Sprachenportfolio (ESP) bietet
eine Form an, in der höchst unterschiedliche Arten des Sprachenlernens und der
interkulturellen Erfahrungen dokumentiert und formell anerkannt werden können.
Zu diesem Zweck bietet der Referenzrahmen nicht nur Skalen für
die allgemeine Beherrschung einer bestimmten Sprache an, sondern auch eine
Aufteilung in spezifische Kategorien der Sprachverwendung und der
Sprachkompetenz, was es Praktikern erleichtert, Lernziele zu spezifizieren und Lernerfolge
in den unterschiedlichsten Bereichen zu beschreiben, und zwar in
Übereinstimmung mit den wechselnden Bedürfnissen, den persönlichkeitsbezogenen
Kompetenzen und den Lernbedingungen der Lernenden.